Edmund White über seine New York-Memoiren “City Boy” 9. Juli 2015 – Posted in: Aktuelles

Frage: Sie haben vier autobiografische Romane geschrieben und eine tatsächliche Autobiografie, My Lives. Warum noch eine Autobiografie? Gibt es da überhaupt noch etwas zu sagen?
Edmund White: Es mag seltsam erscheinen, aber ja, da gibt es noch eine ganze Menge zu erzählen. Mein Leben war ungewöhnlich ereignisreich, was vielleicht daran liegt, dass ich lange Zeit Journalist war, ein aufstrebender Romanautor, mich gern unter Menschen begebe, in vielen große Städten gelebt habe – New York, Rom, San Francisco, Paris, …

Was ist so anders an diesem Buch, City Boy?
My Lives habe ich nach Themen gegliedert: „Meine blonden Jungs“, „Meine Therapeuten“, „Meine Mutter“. In City Boy hingegen gehe ich chronologisch vor. Darin geht es ausschließlich um meine ersten Jahre in New York von 1962 bis 1982.

Was ist an diesen Jahren so spannend?
Aus meiner Sicht war New York in dieser Zeit das Zentrum der modernen Lesben- und Schwulenbewegung. Immerhin war die Geburtsstunde dieser Bewegung der Stonewall-Aufstand 1968 in Greenwich Village. Zu dieser Zeit gab es in New York auch eine lebendige kreative Szene. Ich kann mich glücklich schätzen, so viele Schriftsteller, Dichter, Maler, Theaterleute und Schauspieler kennengelernt zu haben. Nicht zu vergessen das New York City Ballet, das damals in aller Munde war.

Was war das Besondere an diesem Ballettensemble?
Wir haben es immer so gesagt: In einer Stadt, wo den ganzen Tag nur gestritten und diskutiert wird, kann nur eine wortlose Kunstform alle erreichen. Was wir dort auf der Bühne sahen war die Vision einer zukünftigen Gesellschaft, einer Gesellschaft auf der Grundlage von Liebe und gemeinsamen Zielen. Am besten verkörpert wurde das wohl in Jerome Robbins’ Ballettstück Dances at a Gathering. Aber das wahre Genie der Siebzigerjahre – nicht nur in New York, sondern in der gesamten westlichen Welt – war Balanchine. Für uns war er der Brückenschlag zum kaiserlichen Russland und zu den Ballets Russes, dem Europa der 1920er Jahre mit all den großen Komponisten wie Strawinsky, Prokofjew und Hindemith und den berühmten Malern wie Picasso und Rouault.

War das Ballett auch eine soziale Bühne?
Definitiv. Es gab für gewöhnlich drei längere Pausen pro Abend, in denen man sich über die Stücke unterhalten konnte – und sich dabei gut kennenlernte. Ich habe dort ständig Susan Sontag gesehen und Bob Gottlieb, der damals Herausgeber bei Knopf war und später beim New Yorker anfing. Auch der legendäre Edwin Denby, bester Ballettkritiker Amerikas, war dort jeden Abend. Das Foyer des State Theater war quasi der Salon New Yorks.

Übt New York immer noch die gleiche Anziehungskraft auf Sie aus?
Es ist immer noch eine beeindruckende, internationale Stadt, aber in Manhattan – und gerade in Lower Manhattan unterhalb der 14th Street – können sich junge, aufstrebende Künstler nicht mehr leisten zu leben. Früher begegnete man dort auf der Straße bekannten Leuten, die später eine wichtige Rolle für einen selbst spielen konnten. Heute leben die Künstler verstreut über alle möglichen Viertel und müssen erst Termine vereinbaren, um solche Kontakte zu knüpfen. New York ist wie Paris geworden, eine Stadt für reiche Leute.

Einige Passagen über Susan Sontag und Harold Brodkey wirken etwas gehässig. Sollte man noch über die Toten herziehen?
Voltaire hat einmal gesagt: „Den Lebenden schuldet man Respekt, aber den Toten schuldet man nichts als die Wahrheit.“ Ich glaube, von allen, die sich zu Susan Sontag geäußert haben, bin ich noch der harmloseste. Zu ihren Lebzeiten hat sie die Gefühle vieler Menschen verletzt – auch meine, deswegen hatten wir einen langen Streit. Aber ich habe sie immer bewundert und wollte ein paar Dinge richtigstellen.

Wo wir gerade bei der Wahrheit sind, wie halten Sie es mit fiktiven Einschüben in Memoiren?
Davon halte ich gar nichts, außer es sind so amüsante, leichtfüßige „Memoiren“ wie die Bücher von David Sedaris. Sein Hauptaugenmerk liegt offensichtlich darauf, seine Leserschaft zu unterhalten, und das kann er wunderbar. Als Romanschriftsteller habe ich möglicherweise andere Ambitionen, wenn ich Sachliteratur schreibe – dort will ich dann nichts als die Wahrheit erzählen. Wenn man so will, ist das die stille Übereinkunft, die Autor und Leser von Memoiren treffen – und ich kann nachvollziehen, dass die Leser verärgert sind, wenn sie feststellen, dass ein Memoirenschreiber die Abfolge von Begebenheiten geändert hat, nur um sie dramatischer oder in einem besseren Licht erscheinen zu lassen. Natürlich können Erinnerungen schnell trügen, aber wenn man die Tatsachen bewusst schönt, dann schummelt man in einem Werk, das sich als die ungeschminkte Wahrheit präsentiert.

Führen Sie Tagebuch?
Nein, ich habe mir nie Dinge notiert, und einige meiner Freunde schicken mir sogar E-Mails, in denen sie meine Schilderungen berichtigen. Wenn es tatsächliche Fehler sind und nicht nur irgendwelche Interpretationsfragen, dann korrigiere ich sie auch. Ich vertraue auf die Kraft des selektiven Gedächtnisses – wenn wir alles erinnern würden, könnten wir die Vergangenheit gar nicht einheitlich neu erschaffen. Borges hat eine faszinierende Geschichte über die Qualen eines perfekten Gedächtnisses geschrieben, Funes el memorioso.

Fühlen Sie sich nicht wie ein Egomane, wenn Sie so oft über sich selbst schreiben?
Ich muss mich sogar selbst ständig daran erinnern, über mich zu schreiben, um den roten Faden durch meine Biografie nicht zu verlieren. Ich bin so fasziniert von anderen Menschen – das kann man an den Beschreibungen in City Boy sehr gut sehen –, dass ich oft vergesse, über mich zu schreiben, zum Beispiel über meine eigenen Ambitionen oder Liebschaften.