Was macht queere Literatur aus, Raziel Reid? 8. November 2016 – Posted in: Aktuelles – Tags: interview, Movie Star, Raziel Reid
Im Sommer 2016 richtete das Literarische Colloquium Berlin das internationale Literatur- und Kulturfestival Empfindlichkeiten – Homosexualitäten und Literatur aus. Einer der über vierzig geladenen Autorinnen und Autoren war Raziel Reid, dessen Debütroman Movie Star Anfang des Jahres bei Albino erschien. Im Interview (hier im englischen Original) mit Kulturjournalist Stefan Mesch, der das Empfindlichkeiten-Festival mit einem Liveblog begleitete, steht Raziel Reid Rede und Antwort zu Fragen nach Queerness und der eigenen Identität.
Dreizehn Fragen an Raziel Reid
01 Wenn jemand Dich einen „homosexuellen Autor“ nennt, dann …
… zeige ich ihm, wie gut ich einen Stift mit meinem Arschloch halten kann.
02 Der queerste Moment, der Dir aus Deiner Kindheit in Erinnerung geblieben ist:
Ich hatte als Kind eine Affäre mit einem Nachbarsjungen. Das verarbeite ich auch in meinem Roman Movie Star. Der Junge wohnte neben dem Haus meiner Großeltern, die sehr religiös waren. Wenn meine Großmutter oben in der Küche Kuchen für Wohltätigkeitsveranstaltungen der Kirche backte, waren wir unten im Keller und „spielten“. Wir waren neun oder zehn Jahre alt. Wir hatten immer ein bisschen Angst, erwischt zu werden, also war durchaus das Bewusstsein da, dass wir etwas taten, das uns in Schwierigkeiten bringen konnte. Aber wir schämten uns nicht dafür. Das war bevor die Gesellschaft sich in unseren Köpfen festgesetzt hatte und uns hemmte. Unser Verhalten war instinktiv und sehr leidenschaftlich. Ich habe den Jungen geliebt.
03 Gibt es ein queeres Buch, das Dich beeinflusst hat und wenn ja, wie?
Faggots von Larry Kramer war ein ziemlich umwerfender Moment in meiner Jugend und hat mich inspiriert, nach New York City zu ziehen. Das Buch führte mich in die Welt des queeren Undergrounds ein. Es half mir zu begreifen, dass mein Leben sehr viel mehr sein konnte als das, was mir als gottesfürchtigem katholischen Jungen eingebläut wurde. Kramer wurde mein neuer Gott und ich war ihm seitdem stets ein treuer Jünger.
04 Welches andere queere Kulturprodukt, das kein Buch ist, hat Dich beeinflusst, und wie?
Ich erinnere mich noch, als in den 1990er-Jahren Will & Grace ins Fernsehen kam. Dort sah ich zum ersten Mal schwule Charaktere. Ich wusste, dass ich schwul bin, aber ich war noch nicht im Reinen mit meiner Identität. Das war eine sowohl befreiende wie auch beschämende Erfahrung. Ich bin in einer kanadischen Kleinstadt aufgewachsen. Meinem Vater war es so unangenehm, wenn Will & Grace anfing, dass er sofort den Raum verließ. Meine Mutter schien Will zu mögen, aber die schrillere Figur Jack brachte sie in Verlegenheit. Von klein auf setzte es sich in meinem Kopf fest, dass es besser war, als schwuler Typ „straight acting“ zu sein als so effeminiert wie Jack. Dieses Denken gibt es noch immer. Viele schwule Typen auf den Dating-Apps suchen „straight acting“ und „keine Tunten“.
05 In Buchläden fühle ich mich am meisten geehrt, wenn ich neben diesen Autor_innen stehe:
Chuck Palahniuk, Ira Levin, Dennis Cooper, die Bibel.
06 Ein queerer Moment, den Du hier in Berlin oder anderswo in Deutschland hattest und an den Du Dich noch lange erinnern wirst:
Ich habe den Frühling in Berlin verbracht und während meiner ersten Woche hier besuchte ich die Launch-Party von Matt Lamberts Zine Vitium, das vom Verlag Bruno Gmünder herausgegeben wurde. Die Party fand in der berüchtigten Tom’s Bar statt, ich wurde also mit der Berliner Underground-Szene und der Künstlern dort bekannt, als ich mir eine Live-Sex-Show ansah. Ziemlich einprägsam. Ich glaube, ich will bei allen meine zukünftigen Launch-Partys Live-Sex-Shows!
07 Nenne ein paar Experten, Autoren, Aktivisten, einige Orte, Institutionen und Diskurse/Debatten, die Dich geformt und informiert haben und beeinflussten, wie Du Queerness verstehst – und Dich selbst:
Das erste Mal, dass ich mich für Queerness interessierte, war, als ich mich während meiner Jugend mit Warhols Factory beschäftigte. Von Warhol stammt das Zitat „In meinen Filmen ist jeder in Joe Dallesandro verliebt“ – und tatsächlich war es jeder! Mir gefiel es, über all die Superstars zu lesen und fühlte mich von Leuten wie Candy Darling und Holly Woodlawn ermutigt. In meiner Heimatstadt fühlte ich mich so sehr als Freak, und diese Leute feierten ihr eigenes Anderssein. Das ist, was sie zum Glänzen brachte.
08 Nenne ein paar Experten, Autoren, Aktivisten, Orte, Institutionen und Debatten/Fragestellungen, die mehr Anerkennung und Liebe verdienen:
Vor Kurzem las ich One-Man Show von Michael Schreiber, ein Buch, das aus Interviews mit dem New Yorker Künstler Bernard Perlin besteht. Er war eine beeindruckende Persönlichkeit und ein Visionär. Ich habe es sehr genossen, über sein Leben zu erfahren. Er war mit vielen queeren Personen verbunden wie Paul Cadmus, Glenway Wescott, George Platt Lynes und Denham Fouts, und er hatte über jeden dieser Menschen spannende Anekdoten zu erzählen. Perlin ist unterrepräsentiert. Er entkam der Aids-Krise, während er in Greenwich Village lebte, gerade dann, als Aids aufkam. Allein das ist sehr heldenhaft und eine eingehendere Beschäftigung wert. Mich faszinieren Erzählungen von schwulen Künstlern, die die Epidemie überlebt haben. Die vielen Verluste, die sie hinnehmen mussten, und wie das ihr Werk und sie selbst beeinflusst hat, sollte allezeit geehrt werden.
09 Gibt es einen queeren Charakter oder eine Person, eine Berühmtheit, eine queere Geschichte oder ein Phänomen, das in der Mainstream-Kultur sehr präsent ist? Und das Dich freut, gerade weil es so sichtbar ist?
James Franco ist cool. Er bewegt sich zwischen den sexuellen Orientierungen, was sehr „Hollywood“ ist. Viele Leute im Filmgeschäft haben keine festen sexuellen Präferenzen, aber die wenigsten geben es zu und zeigen es so offen wie er, aus Angst, ihre Rollen zu verlieren.
10 Wenn Akademiker sich über queere Themen unterhalten, denke ich oft …
… hätte ich nur ihre Einbildungskraft.
11 Eine Person (oder allgemeiner: ein Aspekt von Persönlichkeit oder Erscheinung), die Du sexy findest:
Gore Vidal, weil er für das einstand, woran er glaubte. Selbst als seine Überzeugungen unter Beschuss gerieten und ihm schlechte Publicity bescherten (was oft vorkam), stand er zu ihnen. Ich bewundere seine Haltung.
12 Bist Du queer? Wie verhält sich Deine Queerness zu Deinem Schreiben, wie befeuert sie Deine Kunst? Andererseits: War Dir Deine Queerness jemals im Weg oder hat Dir Schwierigkeiten gemacht?
Ich habe es gut, weil ich aus einem fortschrittlichen Land komme, aus Kanada. Dort hat meine Sexualität meine Karriere vorangetrieben. Das erste Mal, dass ich als Schriftsteller gearbeitet habe, war für eine queere Zeitung. Mein Romandebüt ist eine LGBT-Teenager-Geschichte und wurde in Kanada von einem Verlag herausgebracht, der für sein queeres Programm bekannt ist – und von zwei schwulen Männern geleitet wird. Meine Sexualität ist die Grundlage für mein literarisches Schaffen.
13 Es gibt diese Videokampagne, die depressive Teenager davon abhalten will, Selbstmord zu begehen, „It gets better“. Wird es wirklich besser? Wie und für wen? Wann wurde es für Dich besser? Und was muss noch besser werden?
„Es“ wird nicht besser. Diese Welt wird immer versuchen, dich zu verletzen. Was besser wird, das bist du selbst. Wenn man älter wird und Halt findet, wird man auch klüger und widerstandsfähiger.