Queere Liebe sprengt Ratio: ›Die Kunst der Bestimmung‹ 11. Februar 2021 – Posted in: Aktuelles – Tags: , , ,

„Nun beginnt es neu. Hier. Heute“, ruft der geniale Wissenschaftler Professor Chrysander in Christine Wunnickes „Die Kunst der Bestimmung“ verzückt. Die Worte erklingen an einem Frühlingsmorgen im Jahr 1679, und sie beziehen sich auf ein überraschend erblühtes lappländisches Moos, das Chrysander beforscht. Sie passen aber auch perfekt zur Gegenwart. Und zum Roman, in dem Chrysander die Hauptrolle spielt. Der jetzt, nach Jahren, in denen er vergriffen war, im Albino Verlag als Neuausgabe erschienen ist.

In Die Kunst der Bestimmung“ erzählt Christine Wunnicke, die 2020 mit „Die Dame mit der bemalten Hand“ (Berenberg Verlag) einen mehrfach preisgekrönten Supererfolg bei Leser*innen und Kritiker*innen landete, die Geschichte einer Liebe, die jede Ratio sprengt. Der dröge Wissenschaftler Chrysander trifft im London des ausgehenden 17. Jahrhunderts auf den flatterhaften Freigeist Lord Fearnall alias Lucy“ – eine schicksalhafte Begegnung, in deren Folge Blut und Tränen fließen, aber eben auch das lappländische Moos erblüht.

In seiner Laudatio bei der Verleihung des Wilhelm Raabe-Literaturpreises 2020 an Christine Wunnicke sagte Rechtswissenschaftler Michael Stolleis über die schriftstellerische Arbeit der Preisträgerin „Eins ihrer Bücher war bezaubernder als das andere“, um anschließend zu bekennen, dass eines seiner Lieblingsbücher Die Kunst der Bestimmung“ sei, das er folgendermaßen zusammenfasste:

„Der Roman eines Forschergenies des 18. Jahrhunderts, Professor Chrysander aus Uppsala, und eines exzentrischen rotlanghaarigen Lords aus der verdorbenen Clique Charles II. um 1678. (…) Es geht um die Bestimmung der Arten, um das Verständnis der Evolution in einem umfassenden evolutionären Systema Naturae. Cook und die Forsters, Haller, Blumenbach, Alexander von Humboldt und Darwin schauen um die Ecke, aber vor allem natürlich das Bestimmungsgenie Carl von Linné mit seiner Flora Lapponica. Dazu gehört auch, wie öfter bei Wunnicke, die Liebe zwischen Männern. Und das Ganze endet auf dem Seziertisch des Anatomischen Theaters in Uppsala …“

Eine knappe, aber treffende Synopsis für diesen Roman, der die Leser*innen erst ins lasterhafte London Ende des 17. Jahrhunderts eintauchen lässt, um sie schließlich in die stillen Weiten Lapplands zu entführen. Die Kunst der Bestimmung“ ist augenzwinkernde Verneigung vor der Welt der Wissenschaft, schwelgerische Allegorie auf das Mysterium der Liebe, große Literatur und gute Unterhaltung in einem.

Das Buch erschien erstmals 2003, war zuletzt vergriffen und erfährt nun als Neuausgabe bei Albino seine Renaissance. Genau zum richtigen Zeitpunkt wie wir finden. Nicht nur ist das Interesse am Werk von Christine Wunnicke nach dem Erfolg von „Die Dame mit der bemalten Hand“ ungebrochen hoch, auch der Roman selbst ist zwanzig Jahre nach seiner Entstehung mehr denn je auf der Höhe der Zeit. Von der Leichtigkeit, mit der er Gender-Normen hintertreibt, Queerness im Subtext miterzählt und Beziehungskonventionen auf den Kopf stellt, können heutige Diversity-Experten viel lernen.